Wer versteht heutzutage, was ein Schlengadippsche sein konnte? Ich übersetze: ein Schleudertöpfchen Es war ein „Out-door-Spiel" an dunklen Spätherbst- und Winterabenden. In den Boden und die Seitenwand einer leeren Konservenbüchse schlug man Löcher, befestigte am oberen Rand eine lange Drahtschleife, füllte die Dose mit Papier und Holzstückchen und entzündete den Inhalt. Dann ließ man sie mit ausgestrecktem Arm kreisen. Durch den Luftzug brannte das Feuer lichterloh. Es sah gespenstisch aus, wenn ein halbes Dutzend Jungen ihre „Schlengadippscha" durch die Dunkelheit sausen ließen. Ehe das Feuer in der Dose erlosch, schleuderte man sie davon.
Dieses „Spiel mit dem Feuer" war nicht ganz ungefährlich, wie man verstehen wird. Aber es gab gefährlichere, und ich zögere, sie Spiel zu nennen. Und doch sagten wir: „Mir schbille Griesch." Das Kriegsspiel mit den Bleisoldaten war harmlos. Die Beete im Hausgarten zu unterhöhlen, um den Westwall nachzubauen, konnte zu Ärger mit dem Vater führen. Noch weniger mochte er es, wenn man aus seinem Werkzeugfundus eine Feile mit nach draußen nahm. Damit zeichnete man auf einem unbefestigten Platz eine Landkarte. Jeder Mitspieler stellte sich in sein Land. Die Feile warf man in das Nachbarland, mit dem man im Krieg war. Blieb sie im Boden stecken, annektierte man ein Stück des feindlichen Territoriums. Die neue Grenze verlief durch die Stelle, in der die Feile steckte. Fiel sie flach auf den Boden, war der Nächste an der Reihe.
Anders ging es zu, wenn zwei Gruppen Jungen zwei gegnerische Armeen darstellten. Mit Steinewerfen versuchte man, die Feinde aus einem bestimmten Areal zu vertreiben. Nicht selten lagen zwei Teile eines Ortes oder zwei Nachbardörfer in einem latenten Kriegszustand, womit es jederzeit Ernst werden konnte. In Wehrden, das durch die Bahnlinie in Berg und Dorf geteilt wird, ging es um die Herrschaft über den Bahnberg, die bewaldete Böschung oberhalb der Bahn. Im Krieg zwischen Hostenbachern und Wehrdenern kämpften die Jungen um die Kipp, die Abraumhalde der Völklinger Hütte, die die beiden Dörfer trennt. Natürlich gab es auch Waffenstillstandsverhandlungen und Friedensschlüsse, die mehr oder weniger lang hielten, wie in der großen Politik.
Ich weiß nicht mehr, ob ich die Geschichte von der Feier anlässlich des Friedensschlusses zwischen Hostenbachern und Wehrdenern irgendwo gelesen habe oder erzählt bekam. Ich war nicht dabei. Sie muss sich vor meiner Zeit abgespielt haben. Es wurde ein Fußballspiel vereinbart. Es sollte auf dem Wehrdener Sportplatz ausgetragen werden. Die Einheimischen stellten den Ball. Auf ein verabredetes Zeichen mitten im Spiel schnappten die Hostenbacher den Ball und rannten davon. Damit hatten die Wehrdener nicht gerechnet. Trotzdem gelang es ihnen, einen Hostenbacher gefangen zu nehmen. Er wurde in einen Hühnerpferch gesperrt und erst dann freigelassen, als der Ball zurückgegeben wurde.
In unseren Jungenköpfen war Krieg immer eine Sache zwischen Deutschland und Frankreich, vielleicht weil wir nah an der Grenze lebten, Deutschland siegte. Umso erstaunter war ich eines Tages, dass es driwwe, drüben, auf der anderen Seite der Grenze, genau umgekehrt war. Es mag im Sommer 1938 gewesen sein. Wir besuchten die Familie der Schwester meines Vaters im lothringischen Kleinrosseln. Mein Cousin Erwin spielte mit seinen Kameraden Krieg. Die Franzosen gewannen. Das beschäftigte mich noch längere Zeit.
Im September 1939, als es mit dem Krieg Ernst wurde, wurden die grenznahen Dörfer auf beiden Seiten geräumt; die Lothringer wurden nach Westfrankreich gebracht, wir nach Innerdeutschland. Nach einem Jahr sahen wir uns wieder. Ende 1943 wurde mein Cousin Erwin zur deutschen Wehrmacht eingezogen. Mit dem Fahrrad kam er von Kleinrosseln herübergefahren, um sich zu verabschieden. Wir sahen ihn nicht wieder. Er ist in Russland gefallen.
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Vorschaubild: Rita Dadder